25.09.2022 14:43:38

Volkswirte: 'Werden alle ärmer aus der Krise kommen'

NÜRNBERG (dpa-AFX) - Der immense Verlust an Kaufkraft und die Kostenexplosion wegen hoher Energiepreise für Unternehmen führen die deutsche Wirtschaft nach Auffassung von Volkswirten geradewegs in die Rezession. Marc Schattenberg von Deutsche Bank Research sieht für das nächste Jahr sogar einen Rückgang der Wirtschaftsleistung in Höhe von 3,5 Prozent voraus. Andere Volkswirte sehen einer dpa-Umfrage zufolge die Auswirkungen etwas milder, die Konjunktur aber immer noch deutlich auf Talfahrt. "Der Konjunkturabschwung wird auch am Arbeitsmarkt Spuren hinterlassen", sagte Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der staatlichen Förderbank KfW.

Vor allem die privaten Haushalte und ihre Kaufkraft müssen schwer Federn lassen. "Durch die hohe Inflation hat sich die Finanzlage der privaten Haushalte seit Jahresbeginn erheblich verschlechtert", kommentierte Köhler-Geib. "Im zweiten Quartal waren die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte nach Abzug der Inflationsrate 1,9 Prozent niedriger als im Vorjahresquartal. Im zweiten Halbjahr werden die Realeinkommen voraussichtlich weiter sinken", sagte sie.

"Der Verlust an Kaufkraft dämpft den Konsum und zusammen mit den gestiegenen Zinsen auch den privaten Wohnungsbau." Marc Schattenberg sieht es ähnlich: "Ein Großteil der Haushalte wird mit spürbaren realen Einkommensverlusten zurechtkommen müssen." Katharina Utermöhl, Volkswirtin bei der Allianz-Gruppe, bringt die Lage noch deutlicher auf den Punkt: "Wir werden alle ärmer aus der Krise herauskommen."

Deutschland durchlebe die schwerste Krise der vergangenen 50 Jahre. "Das stellt die große Finanzkrise und die Euro-Schuldenkrise in den Schatten", sagte sie. Der Inflationsschmerz müsse nun abgefedert werden. Einerseits durch fiskalpolitische Maßnahmen des Staates, andererseits aber auch durch Sparverhalten der Privatleute.

Hier sei noch nicht genug Bewusstsein entstanden, sagte auch Christoph Siebecke von der Oldenburgischen Landesbank. "Die Politik sollte den Preis nicht zu sehr beeinflussen. Sonst werden die Haushalte nicht reagieren", sagte zu er zur Diskussion über die mögliche Deckelung von Energiepreisen. "Der Sparanreiz für die Verbraucher muss spürbar bleiben", meint auch Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung, den sogenannten "Wirtschaftsweisen".

Für sie ist einer der Schlüssel dafür, wie Deutschland in der Lage sein werde, die Krise abzufedern, die Bereitstellung von genügend Energie. "Man sollte auf der Angebotsseite alle Möglichkeiten ausschöpfen. Das Angebot an Energie muss erhöht werden", betonte sie. "Ich habe das Gefühl, dass nicht allen bewusst ist, dass die Erneuerbaren Energien alleine nicht schnell genug als Ersatz zur Verfügung stehen werden", fügte sie hinzu. Es seien beispielsweise erst zwei Kohlekraftwerke wieder ans Netz gegangen. "Auch die Atomkraftwerke sollten im kommenden Jahr weiterlaufen und nicht nur in Betriebsbereitschaft sein", verlangte sie.

Siebecke forderte in diesem Zusammenhang die Energiekonzerne auf, Abschläge auf den Märkten unverzüglich an die Kunden weiterzugeben. "Die Weltmarktpreise sind inzwischen weit weg von den Hochs, die wir schon einmal gesehen haben", sagte er. "Es wäre gut, wenn das Kartellamt da noch mehr hingucken könnte."

Deutsche-Bank-Volkswirt Marc Schattenberg glaubt, dass die wirklich großen Probleme erst im ersten und zweiten Quartal des nächsten Jahres auf Deutschland zurollen werden. Wenn die vor dem Winter nun gut gefüllten Gasspeicher geleert seien und Gas im großen Stil zum Wiederauffüllen gekauft werden müsse, werde der Preis weiter steigen. Gleichzeitig würden die mit dem Jahreswechsel häufig neu abzuschließenden Stadtwerke-Verträge den privaten Gaskunden kräftige Löcher in die Taschen fressen.

Die Volkswirte erwarten, dass es im Zuge der Energiepreiskrise auch zu mehr Insolvenzen kommt - vor allem bei kleineren Unternehmen mit hohem Anteil an Energiekosten. Auch der Export werde leiden, weil die Handelspartner im Ausland ebenfalls Kaufkraftverluste hinnehmen müssten, sagte Köhler-Geib.

In diesem Zusammenhang plädierten die Fachleute auch für gemäßigte Lohnabschlüsse bei den anstehenden Tarifverhandlungen. "Das Argument der vollen Auftragsbücher wird an Kraft verlieren", sagte Schattenberg. Und Veronika Grimm betonte: "Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften ist aufgrund des Fachkräftemangels groß. Andererseits stehen viele Unternehmen unter Druck. Es bleibt abzuwarten, was das für die Abschlüsse bedeutet."

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann bekräftigte zuletzt die Forderung nach acht Prozent mehr Lohn in der aktuellen Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie - und hält eine pauschale Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie für übertrieben. "Das Worst-Case-Szenario der Prognosen, die uns vorliegen, wäre eine Rezession für das ganze Jahr 2023 mit einem Minus von einem bis zwei Prozent. Im besten Fall steht die Null. Wir stehen jedenfalls nicht am Abgrund", sagte er der "Welt am Sonntag".

Laut der Vorstandschefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, haben sich allerdings zuletzt mehr Unternehmen danach erkundigt, unter welchen Bedingungen sie Kurzarbeit anmelden könnten. "Das ist ein Frühindikator dafür, dass es wieder zu mehr Kurzarbeit kommen könnte", sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND)./dm/DP/he

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