05.10.2022 20:30:38
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In der Schlangengrube, Kommentar zur britischen Premierministerin
Truss von Andreas Hippin
London (ots) - Liz Truss gehört nicht zu den Politikerinnen, die einen durch ihr
Charisma mitreißen können. Doch hat die neue Premierministerin ihre Antrittsrede
auf dem Tory-Parteitag besser als erwartet über die Bühne gebracht. Dazu verhalf
ihr ein kurzer Greenpeace-Protest, mit dem sie vergleichsweise charmant umging.
Es war die perfekte Überleitung dazu, über eine vermeintliche
Anti-Wachstums-Koalition aus Labour, schottischen Nationalisten,
Liberaldemokraten, Gewerkschaften und sonstigen Bedenkenträgern herzuziehen, die
das Land aus ihrer Sicht am Boden hält.
An ihrer Weltsicht hat sich trotz aller Turbulenzen der vergangenen Tage nichts
geändert. Sie setzt weiter auf Steuersenkungen und Deregulierung, um Wachstum zu
generieren. Dass der Funke übersprang, lässt sich nicht behaupten. Die Stimmung
entsprach eher dem herannahenden Ende einer Amtszeit als dem viel beschworenen
Neubeginn. Trotzdem erhielt sie am Ende noch reichlich Applaus.
Die Tories sind nach zwölf Jahren an der Macht in einem bemitleidenswerten
Zustand. Wie bei Labour handelt es sich auch bei ihnen um eine Koalition
unterschiedlichster Interessengruppen. Die Parlamentsfraktion hat mit Boris
Johnson ihren in der Bevölkerung beliebtesten Politiker gestürzt, der den
Konservativen 2019 zu einem Erdrutschsieg verhalf - und das wegen Verfehlungen,
die außerhalb von Westminster nicht viele Menschen interessierten. Die
Abgeordneten wollten Johnson durch seinen Schatzkanzler Rishi Sunak ersetzen,
doch die Parteibasis spielte nicht mit. Denn die Mitglieder sind konservativer
als die Mandatsträger der Partei. Sie wählten mit Truss eine Vertreterin des
libertären Flügels an die Spitze. Einige Abgeordnete wollen sich damit nicht
abfinden. Ihre Drohung, im Parlament gegen die vorgeschlagene Abschaffung des
Spitzensteuersatzes zu stimmen, zwang Truss zur Kehrtwende. Gewiss, es war
ohnehin keine gute Idee. Aber was soll man von einer Mitte-rechts-Partei halten,
die es trotz überwältigender Mehrheit im Unterhaus nicht schafft, eine
Steuersenkung zu verabschieden? Der Widerstand gegen das Geschenk an die
Großverdiener dürfte erst der Anfang der Auseinandersetzungen innerhalb der
Partei gewesen sein.
Truss fehlt es am nötigen Rückhalt in der Fraktion, um die von ihr angestrebten
tiefgreifenden Veränderungen durchs Parlament zu bringen. Auch ihr Kabinett
erweist sich als Schlangengrube. Während Innenministerin Suella Braverman
öffentlich bedauerte, dass Truss nachgab, forderte Penny Mordaunt einen vollen
Inflationsausgleich für Sozialhilfeempfänger. Mordaunt nimmt die Geschäfte der
Regierung im Unterhaus wahr. Sie wiederholte mit ihrer Forderung allerdings nur,
was die Vorgängerregierung ihren Wählern versprochen hatte. Denn die Tories
wurden auf Grundlage eines Wahlprogramms gewählt.
Will Truss davon wesentlich abweichen, muss sie sich dafür ein neues politisches
Mandat holen. Denn sie wurde - anders als Johnson - nicht von der Bevölkerung
gewählt. Die Lager haben nicht viel Zeit, sich unter ihrer Führung zu vereinen,
soll die Partei nicht zu einer Koalition des Niedergangs werden. Geht der
Hickhack weiter, sind Neuwahlen unausweichlich. Und Labour liegt in den Umfragen
deutlich vorn.
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