22.02.2014 11:05:31
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Europa rechnet Schulden klein
Von Andreas Kißler
BERLIN--Im September soll auf europäischer Ebene eine neue Methode zur Berechnung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wirksam werden. Das hat Auswirkungen auf Indikatoren wie Defizitquote und Schuldenstand. Sie werden generell niedriger ausfallen und könnten damit erneut die Diskussion entfachen, wieviel Sparkurs wirklich notwendig ist.
Die neue Formel rechnet zum Beispiel Mittel für Forschung und Entwicklung (FuE) sowie Militärausgaben als Investitionen und sorgt insgesamt dafür, dass die BIP-Zahlen in Europa höher ausfallen werden. Umgekehrt wird dies Indikatoren wie Defizitquote und Schuldenstand senken. Auf die Diskussion in Deutschland hat die anstehende Revision bereits Auswirkungen.
Ökonomen sehen gravierende Änderungen durch die international verordnete Einführung des neuen "Systems Europäischer Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen 2010" oder kurz "ESVG 2010". Damit werden die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung (FuE) wie schon jetzt in den USA künftig als Investitionen und nicht mehr wie bisher als Vorleistungen gelten. Auch sollen militärische Güter dann als öffentliche Investitionen und nicht mehr als Konsumausgaben eingestuft werden.
Da dies die mit dem BIP ausgewiesene deutsche Wirtschaftsleistung erhöht, werden automatisch die Defizit- und Schuldenquoten sinken, denn diese werden als Prozentsatz des BIP gemessen. Das heißt: Der gleiche Schuldenstand wird auf einmal niedriger dargestellt.
"Auch wenn sich substanziell nichts an der Verschuldungslage der Länder ändern wird, wird es einen statistisch ausgewiesenen deutlichen Schuldenabbau geben", betont Volkswirt Georg Erber vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einem Fachartikel auf der Internetplattform Ökonomenstimme. "Am Ende gilt dann die schöne Formel nach der Revision - mehr Wachstum - mehr Investitionen - rascherer Schuldenabbau."
Das Statistische Bundesamt räumt ein, dass das BIP aufgrund der Revision deutlich ansteigen wird - es sieht aber keine größeren Wirkungen auf die Quoten für Verschuldung und Defizit. "Im Ergebnis ist zu erwarten, dass das BIP, vor allem aufgrund der neuen Behandlung von FuE-Aufwendungen, im Niveau merklich steigen wird", erklärt die Behörde auf ihrer Internetseite.
Nach einer ersten Schätzung sei mit einer Niveauanhebung des deutschen BIP "von etwa 3 Prozent aufgrund von Konzeptänderungen und -präzisierungen" zu rechnen. "Für den Finanzierungssaldo des Staates und die Defizitquote werden keine großen Niveauänderungen durch die neuen Konzepte und Definitionen des ESVG 2010 erwartet", behaupten die Statistiker aber. So werde der für 2012 ausgewiesene Maastricht-Finanzierungssaldo bei 0,1 Prozent des BIP bleiben, weil die Korrektur nur die dritte Nachkommastelle betreffe, hieß es auf Nachfrage.
Doch viele Experten sehen das nicht so gelassen. Sie erwarten, dass die Änderung bei der Defizitquote, 2012 entsprach diese immerhin 81,0 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung, deutlich stärker ins Gewicht fallen wird. "Da bin ich mir sehr sicher", sagte DIW-Ökonom Erber dem Wall Street Journal Deutschland.
Und der Chefvolkswirt des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), Roland Döhrn, erwartet, dass die Neuberechnungen die deutschen Schuldenquote um "nicht ganz drei Prozentpunkte" drücken werden. Sie könnte also dann für 2012 nur noch bei rund 78,5 Prozent liegen.
Auch die Steuereinnahmen müssten dann neu geschätzt werden, ebenso wie andere Rechnungen des Staates. Damit könnte es zeitlich eng werden für die neuen Wachstumsprognosen der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, die traditionell Mitte Oktober ihr Herbstgutachten zur Konjunkturentwicklung präsentieren.
Das Bundesfinanzministerium wollte die zu erwartende Entwicklung der Defizit- und Schuldenquote nicht kommentieren. "Destatis macht die Berechnungen", sagte eine Sprecherin lediglich.
Erber hingegen rechnet schon jetzt damit, dass die Politiker sich nach den Europawahlen und der Wiederwahl der EU-Kommission einen Schuldenabbau als Erfolg anrechnen werden, den es gar nicht gegeben hat. "Ich vermute, dass man dann freundlich verkündet, dass es deutliche Fortschritte beim Schuldenabbau gibt," sagte er dem Wall Street Journal Deutschland.
Ein wirtschaftlich starkes Land mit vergleichsweise hohen FuE-Aufwendungen wie Deutschland würde von den Änderungen besonders stark profitieren, konstatierte der Volkswirt. Die Quote von FuE zu BIP beträgt hierzulande fast 3 Prozent. In den Krisenstaaten der Eurozone werde der Effekt hingegen sehr viel geringer zum Tragen kommen. "Die Lücke zwischen Deutschland, das relativ hohe FuE-Aufwendungen hat, und Ländern die sehr niedrige haben, wird natürlich dadurch größer."
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February 22, 2014 04:34 ET (09:34 GMT)
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