26.10.2013 19:10:05
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BERLINER MORGENPOST: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Hajo Schumacher rügt die Empörungsrituale der Deutschen in der Abhör-Affäre
Berlin (ots) - Vergessen wir für einen Moment unsere
Empörungsrituale und machen uns ehrlich. Versetzen wir uns in einen
Mitarbeiter der NSA im Betonbunker, der Zugang zu allen
Handy-Verbindungen Europas hat. Offiziell geht es um die Jagd auf
al-Qaida. Aber die Verlockung ist groß, auch mal woanders zu horchen:
bei Politikern, bei Promis, bei Chefredakteuren, die mit Snowden
reden, oder dem eigenen Partner, der einige Lücken im Tagesablauf
aufweist. Denken wir einen Schritt weiter: Eine paranoide Regierung
sieht sich im Kampf gegen das Böse von der Welt im Stich gelassen.
Warum nicht mal hören, auf wen wirklich Verlass ist? Außerdem
schwächelt die Wirtschaft. Ein Blick ins Innerste europäischer
Forschungsabteilungen kann nicht schaden. Und nebenbei mal hören,
welche Fusionen die Deutschen in den USA so planen, etwa beim
Mobilfunk. Denken wir noch weiter: Soziale Netzwerke wie Facebook
oder Google bieten einen unermesslichen Datenschatz, zudem Know-how
bei angenehm undurchsichtigen Strukturen. Ist es völlig abwegig, dass
es einen ungeschriebenen Deal zwischen Weißem Haus und den
Hexenmeistern des Silicon Valley gibt, wonach die Politik für
ungestörtes globales Wachstum sorgt, was die Digitalkonzerne mit
freundlicher Kooperation auf allen Ebenen danken? Die Nerds von NSA
und Digitalkonzernen dürften schließlich ähnlich ticken, auch in
ihrem elitären Bewusstsein. "Let's face it", sagen die Amerikaner, zu
Deutsch: Seien wir doch mal ehrlich. Empörte deutsche Innenminister
oder skandalbeendende Kanzleramtsminister sind ebenso naiv wie eine
Kanzlerin, die sich aufregt. In Wirklichkeit haben die US-Schlapphüte
nur ein Problem: dass sie sich haben erwischen lassen. Deswegen sind
sie ja so sauer auf den Enthüller Snowden. Seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs beziehen die Vereinigten Staaten einen Gutteil ihrer
bemerkenswerten Motivation aus dem Gefühl, im Krieg zu sein: früher
gegen die Sowjetunion, dann gegen Saddam Hussein, nun gegen den
Terrorismus. Permanente Bedrohungsszenarien treiben das Wettkampfland
Vereinigte Staaten zu immer neuer Kreativität und maximaler
Gnadenlosigkeit. Geheimdienste stehen im Range von
Nationalmannschaften, und nur die aggressivsten und skrupellosesten
gewinnen. Die Kuscheldeutschen gehören bestimmt nicht dazu, denn sie
wissen gar nicht, wer sie sind und was sie sollen. Spielen wir aus
nationalem Interesse das schmutzige Spiel der internationalen
Abhörerei mit, dann aber richtig, oder halten wir uns raus, weil man
so was nicht tut? Für beide Wege gibt es Gründe, einen dritten Pfad
aber gibt es nicht. Schnüffeln ja, aber nach Waldorfschul-Regeln, das
ist ein Widerspruch wie Privatfernsehen ohne Pocher/Becker oder
wohlfeiles Flüchtlingsmitleid, ohne den Menschen von Lampedusa
Asylplätze anzubieten. Während Amerika sich zunehmend in Paranoia
verstrickt, taumeln wir Deutschen durch eine rosa Wunschwelt, in der
das Ethos des schlanken Fußes regiert. Manchmal sind unangenehme
Entscheidungen zu treffen, wie im richtigen Leben auch. Naivität,
Scheinheiligkeit und Doppelmoral sind die billigste Lösung.
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Pressekontakt: BERLINER MORGENPOST
Telefon: 030/2591-73650 bmcvd@axelspringer.de
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